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Traumasensibler DaZ-Unterricht

In den letzten Jahren bekam das Thema „Spracharbeit für und mit traumatisierten Menschen“ eine starke Relevanz. Lerner*innen mit Traumaerfahrung oder auch posttraumatischen Belastungsstörungen können Schwierigkeiten entwickeln, sich zu konzentrieren, zu lernen, sozial zu interagieren; ihre Fähigkeit, Reize einzuordnen und zu verarbeiten kann eingeschränkt sein.

Lehrkräfte wurden vor Herausforderungen gestellt, auf die sie in der Regel in ihrer Ausbildung nicht vorbereitet wurden. Durch diese unmittelbare Erfahrung 2015 geriet in Vergessenheit, dass Deutschvermittlung auf entsprechende Erfahrungen zurückgreifen kann, als in den 90er Jahren Geflüchtete aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg nach Deutschland kamen. Gerade ältere Kolleg*innen haben aus dieser Zeit Sensibilität für guten Unterricht entwickelt, denn ein traumasensibler Unterricht ist in jedem Fall ein guter Unterricht für alle.

Ein traumasensibler Unterricht beginnt zuallererst mit einem migrationssensiblen Unterricht,
denn nicht jede Migration ist eine Flucht, aber jede Flucht ist eine Migration.

In ihrem Vortrag „Sprachenlernen in der Migration“ greift Dr. Verena Plutzar von der Universität Wien wichtige interdisziplinäre Fäden aus der Psychoanalyse, der Literatur und der Sprachvermittlung auf und beschreibt Migration als einen Prozess, der eine tiefgreifende Veränderung in der Identität eines Menschen bewirkt und setzt diesen Prozess in Beziehung zum Sprachenlernen. Sie beschreibt Spracharbeit als die Schaffung eines Erfahrungs- und Beziehungsraumes, in der eine Beziehung zur neuen Sprache aufgebaut wird. Dieser Prozess ist nicht einfach, denn wie in jeder Krise durchleben auch hier Menschen Gefühle wie Ohnmacht, Zorn, Wut oder Scham, die sie selbst und auch die Lehrkräfte herausfordern. Diese negativen Gefühle müssen aber wie in jedem Trauerprozess durchlebt und angenommen werden. Sprachlosigkeit und das damit verbundene Erleben regressiver Zustände, in denen man sich hilflos oder wie ein Kind fühlt, wirken nachhaltig auf das Selbstkonzept. Aus dieser Arbeit heraus formuliert Dr. Plutzar Anforderungen an guten Unterricht und einen ressourcenorientierten Blick auf Migrationserfahrungen, die auch für einen traumasensiblen Unterricht bedeutend sind. Sie versteht die Arbeit als Sprachlehrende vorrangig als Beziehungsarbeit, sie darf sich aber nicht darin erschöpfen, sondern bedarf letztendlich einer hohen Fachlichkeit. Denn den Beziehungsaufbau sieht Plutzar nicht im Aufbau einer persönlichen Beziehung zwischen Lehrperson und Lerner*in, sondern die Lehrkraft muss die Beziehung des Lernenden zur neuen Sprache hin aufbauen und die neue Sprache mit Emotionen, Bildern, Erleben verknüpfen. Ob dies in Integrationskursen im Rahmen der regulativen und ordnungspolitischen Vorgaben in seiner Gänze möglich ist, sieht Plutzar kritisch. „Das Arbeitsfeld Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, so nahm ich es zumindest wahr, erkannte und anerkannte (vor 25 Jahren) die Vielfalt der Bedarfe und Bedürfnisse von Lernenden in einem Prozess der Ausdifferenzierung. Wenn es nun tatsächlich darum gehen sollte, die Menschen, die bei uns Schutz und Aufnahme gefunden haben, dabei zu unterstützen, die Sprache der neuen Gesellschaft zu erlernen, dann wird es meines Erachtens notwendig sein, wieder an diese Entwicklungen anzuschließen und sich dieser Aufgabe differenziert und vor allem interdisziplinär zu nähern“ (Plutzar, 2016)

Traumata, posttraumatische Belastungsstörungen sowie sequentielle und sekundäre Tramatisierungsprozesse können im Unterricht dagegen nicht produktiv bearbeitet werden. Lehrkräfte sind keine Therapeuten. Sie können in der Spracharbeit durch traumasensiblen Unterricht die Lernerfahrung unterstützen, aber nicht das Trauma bearbeiten.
Einen guten Einblick in das Thema Trauma und den Kontext Lernen gibt ein Handbuch der UNHCR für Pädagog*innen.
Lehrkräfte müssen ihren Unterricht, die eigene Rolle und die Methoden reflektieren, ob und inwieweit diese in der Spracharbeit mit traumatisierten Menschen geeignet sind. Auch wenn sie keine Therapeuten sind, benötigen sie einen Methodenkoffer, um dissoziierte Menschen ins hier-und-jetzt zu geleiten. Und sie benötigen Konzepte zur Selbstfürsorge, wenn die Erzählungen und das Mitfühlen sie selbst in den Grenzbereich der sekundären Traumatisierung bringen.

Viele Lehrkräfte haben in den letzten Jahren Fortbildungen zum Themenbereich Trauma absolviert. Nur wenige Fortbildungsangebote gingen einen Schritt weiter und entwickelten den Transfer, was Trauma für DaZ Unterricht, insbesondere für Integrations- und Berufssprachkurse, bedeutet. Seit Sommer 2019 gibt es die ersten, vom BAMF geförderten Angebote in den Zusatzqualifikationen für Lehrkräfte „Lernschwierigkeiten im Unterricht mit Schwerpunkt Trauma“
Wir haben aktuelle Termine der bundesweiten Angebote zusammengestellt, eine Liste der zugelassenen Träger finden Sie hier.

Ein traumasensibler Unterricht ist ein guter Unterricht für alle. Die Zusatzqualifizierung für Lehrkräfte kann dabei nur ein erster Schritt sein. Traumasensibler Unterricht heißt auch, selbstbestimmt zu entscheiden, wo ich lerne und nicht einem Träger zugewiesen zu werden. Traumasensibel bedeutet, dass der Träger Zeit und Energie aufwenden kann, die Lerner*innen zu beraten und zu begleiten. Es heißt, lernen zu können zu einer Zeit, in der ich psychisch und physisch lernfähig bin und nicht meine ganze Energie in die Klärung meines Aufenthaltes investiere.

Es braucht nicht nur einen traumasensiblen Unterricht, es braucht ein traumasensibles System.

Hintergrunderzählungen

In der Publikation "Refugee Stories Collection" hat das DOMID in 71 geführten Interviews eine Auswahl getroffen. Ziel der Publikation ist es nicht, ein allgemeines Lehrbuchwissen über Geflüchtete zu erzeugen, sondern es soll ein kleiner Einblick in die Vielzahl und Vielfalt der weltweiten Fluchtgeschichten gegeben werden. Die Erzählungen fokussieren sich nicht nur auf die Flucht, sondern nehmen auch das Ankommen und das Leben danach in den Blick.

Hintergrundliteratur

Amt für Jugendarbeit der EkvW (Hrsg.)
Traumakompetenz für die Kinder und Jugendarbeit

Udo Baer und Gabriele Frick-Baer
Flucht und Trauma. Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen können, Gütersloh 2016.

Fabienne Berg
Übungsbuch Resilienz, Paderborn 2014.

Dr. med Claudia Croos-Müller
Alles gut – Das kleine Überlebensbuch: Soforthilfe bei Belastung, Trauma und Co

Michaela Huber
Wege der Traumabehandlung, Paderborn 2013

Andreas Krüger
Powerbook. Erste Hilfe für die Seele. Trauma-Selbsthilfe für junge Menschen, Hamburg 2011

Rießinger, Simone
Sekundäre Traumatisierung und der Umgang mit Überlastungsphänomenen“
Vortrag zum Fachtag der Hans-Wendt-Stiftung, 19.02.2015

Plutzar, Verena
„Sprachenlernen in der Migration“
13.12.2018

Plutzar, Verena
„Sprachenlernen nach der Flucht. Überlegungen zu Implikationen der Folgen von Flucht und Trauma für den Deutschunterricht Erwachsener“ in
„Flucht_Punkt_Sprache“ OBST Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, 2016

Luise Reddemann und C. Dehner-Rau
Trauma, Stuttgart 2008

UNHCR
„Flucht und Trauma. Handbuch für PädagogInnen“, 2017

van der Kolk, Bessel
Verkörperter Schrecken: Traumaspuren im Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“, 2015

Dima Zito und Ernest Martin
Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen – Ein Leitfaden für Fachkräfte und Ehrenamtliche, Weinheim und Basel 2016.


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